Historie
Im April 1948 ist Gisela Imhorst sechs Jahre alt und schulreif. Vater Ferdinand und Mutter Hanni hatten zehn Jahre zuvor als eine der ersten Siedler ihr Haus im so genannten Dichterviertel im münsterschen Osten bezogen. Sie bauten am Peter-Rosegger-Weg Nummer 38, ein kleines Haus auf großem Grundstück.
Die Siedlung der Arbeiter der Flugzeugfirma Hansen lag im Grünen, fernab von Geschäften, Schulen oder Kirchen. Die nächste Straßenbahnhaltestelle war 20 Fußwegminuten weit weg. Gisela und ihre zwei Geschwister wachsen in einem Provisorium auf. Es gibt zwar Strom und Wasser, das aus dem eigenen Brunnen gepumpt wird. Doch es gibt weder eine Kanalisation noch eine Straßendecke. Die Wege sind mit Schlacke bedeckt, es staubt im Sommer. Die draußen spielenden Kinder sind deswegen oft besonders schmutzig; die Siedlung bekommt irgendwann ihren Spitznamen „Negerdorf“.
Elementar war zur Nachkriegszeit, dass der vollständig genutzte Garten das Lebensnotwendige parat hatte. Kleintierhaltung war jedem Siedler vorgeschrieben, der Anbau von Obst und Gemüse allen eine Selbstverständlichkeit. Da die Zuteilung von Grundnahrungsmitteln reglementiert war, mangelte es an Brot, Milch und Mehl. Giselas Mutter schickte oft hungrige Kinder ins Bett, auch fiel das Frühstück bisweilen karg aus.
1948 geht Gisela eine knappe dreiviertel Stunde stadteinwärts bis zur Hansaschule, die die Overbergschule beherbergte. „Schuhe waren Mangelware“, erinnert sie sich, „w ir gingen im Sommer barfuss und sonst in Holzschuhen.“ Einen Fußgängerweg kann sie nicht benutzen. Die Wolbecker Straße ist eine von Bäumen umsäumte Chaussee. Ein Bombentrichter ist zu umgehen, Straßenbeleuchtung existiert nicht. Über den Kanal geht es über ein quer liegendes Schiff, dann zu Fuß weiter. Manche Kinder sind pfiffig genug, um einen Pferdewagen anzuhalten und um Mitfahrt auf der Ladefläche zu bitten. Oft baten die Eltern die Kinder, Pferdeäpfel mitzubringen. Bedarf an Gartendünger hatten alle.
Die Imhorsts sind nicht die einzigen, die sich sorgen und dieser gefährlichen wie kinderfeindlichen Unzumutbarkeit ein Ende bereiten wollen. Sie tun sich zusammen mit Sophia Scheiwe, das Unternehmen Ostermann und Scheiwe kennt heute jeder, und Anne Auf der Landwehr. Sophia Scheiwe war sehr aktiv in der Herz-Jesu-Pfarre, zu der die Siedlung damals gehörte. Man spricht bei der Stadt vor, um die Sprengung desgrößten Gebäudes in der Siedlung zu stoppen. Der Bunker soll, so ist ihr Vorschlag, Schule werden.
Ab dem 1. Februar 1949 zeigt sich der erste Erfolg der Initiative. Die Siedlungskinder des ersten und zweiten Schuljahres gehen nicht mehr zur Overbergschule, sondern zum Bunker. Dort hatte (Werbeslogan: „Das gemütliche Lokal, zwischen Werse und Kanal“) die Kneipe „Körn chen Rohlmann“ ihren Platz, die Franz Rohlmann vor der Währungsreform aus eigenen Mitteln aus Holz bauen ließ, genau dort, wo heute Schlotis Kinder schaukeln. In einem Saal der Gaststätte wird nun der Unterricht abgehalten. Die Lehrerin ist Fräulein Gertrud Gerdemann. Sie lehrt nicht nur, sie kämpft mit Mädchen und Jungen jeden Tag gegen widrige Verhältnisse an. Sie unterrichtet vormittags eine Klasse und nachmittags eine zweite, jeweils zwei Stunden. Lehr- und Lernmaterial stehen nicht zur Verfügung. Jedes Kind hat eine Schiefertafel, aber kein einziges Buch. Im Sportunterricht schickt die Lehrerin die Kinder paarweise zum Laufen um die Schule herum. „Wenn ein Zecher den vorderen Kneipenraum betrat, bewegte sich die Schwingtür“, erinnert sich Gisela nur zu gut. „Zigarettenqualm und Stimmengewirr drangen zu uns herüber. Das war auch vormittags so.“
Eltern und Schulkindern war es freilich recht, dass der lange Schulweg Vergangenheit war. „Wir kamen mit dem Henkelbecher zur Schule“, erzählt Gisela, „aus dem tranken wir die Quäkerspeise.“ Die Hilfsorganisation CARE sorgte für die Zutaten, die Frau Wellkamp zu Essen machte: Milchreis, Nudeln mit Rosinen und Pflaumen, Grießsuppe.
Direktor Wibbelt von der Overbergschule, zuständig nun auch für den kleinen „Ableger“ am Bunker, macht neue Gefahrenquellen aus. Er bittet am 2. Februar 1949 die Stadt, den Anwohnern die Erlaubnis zur Einfriedung desFeuerlöschteichs – dort steht heute der Schulpavillon- zu erteilen. Er ist eine Gefahrenquelle. „Ich bitte, das erforderliche Material zu beschaffen und anliefern zu lassen.“ Der Teich wurde im Sommer wie im Winter stark genutzt, zum einen als Schwimmbad, zum anderen als Eislauffläche.
Fräulein Gerdemanns Klassen wuchsen an. Im April 1949 unterrichtete sie bereits 46 Kinder der Klassen eins und zwei. Die Bedingungen für die engagierte Lehrerin aber wurden keinesfalls besser. Die so genannte Entmilitarisierung des Bunkers hatte begonnen – der Lärm der Presslufthämmer, das Dröhnen und das Dreckschleudern der Sprengungen beeinträchtigten den Unterricht massiv. Auch regnete es rein. Wasserlachen bedeckten den Boden. 20 Monate lang halten es alle einigermaßen aus, dann wird der erste Raum im „Luftschutzhaus G 2″ für benutzbar erklärt und am 7. November 1950 Abschied von der Kneipe genommen.
Die bereits Bunkerschule genannte Penne trägt nun ihren Namen zu Recht. Inzwischen steht mit Lehrer Krafft eine zweite Kraft anGertrud GerdemannsSeite. Kraffts Rohrstock fährt im Heimatkunde – Unterricht nicht nur an der Landkarte auf und ab. Er setzt ihn auch zur Maßregelung ein. Mathilde Doßler, Klassenkameradin von Gisela, bekommt den Rohrstock auf den Handrücken gedrückt, denn Krafft wähnt sie beim Essen erwischt zu haben.„Dabeiwollteichnur meinenWackelzahn fühlen“,weiß MathildeForsthövel
noch heute zu gut. Lehrer Krafft wird gleichwohl wie selbstverständlich von den Eltern der Schulkinder mittags zum Essen eingeladen.
Zu gut wissen auch alle noch, wie miserabel die Zustände im Bunker waren. Der erste Klassenraum, auch als Notkirche von den Gläubigen um Pfarrer Eltrop und Kaplan Beckmann genutzt, wird im Herbst 1951 von Stadtschulrat und Oberbürgermeister inspiziert. Was die Herren sehen, bekrittelten Eltern und Kinder längst. Das 98 Quadratmeter große Rechteck mit Wänden von 1,11 m Dicke und einer 1,45 m dicken Decke – heute hat die Über-Mittag-Betreuung hier ihren Platz – wird von acht 40-Watt schwachen Glühbirnen beleuchtet. Die Lämpchen hängen vier Meter hoch. In nur zwei Ecken stehen Öfen – die Kinder in der Raummitte frieren im Winter. Die Luftfeuchtigkeit liegt bei einhundert Prozent. Nasswird es auch von oben, Risse in den Decken lassen den Regen durch. „Wir Kinder haben uns immer Holzplanken mitgebracht“, beschreibt Gisela Imhorst, „dann standen die Füße wenigstens nicht in den Pfützen“. „Tritt man herein“, hält der MünsterischeStadtanzeiger im August 1951 fest, „meint man fast, sich in der Ruine einer mittelalterlichen Festung zu befinden.“ Der Redakteur nimmt „Löcher in den kahlen Wänden, einen zerstörten Fußboden, riesige Wasserlachen und einen scheußlichen Modergeruch“ wahr. Und noch mehr, worüber er nicht genauer schreibt: „Von den weiteren hygienischen Verhältnissen zu sprechen, verbietet uns der Anstand“.
Im Dezember des gleichen Jahres beschreibt der Vorsitzende der Elternpflegschaft dem Oberbürgermeister nochmals eindringlich diese Zustände. Arthur Golkowski aber beklagt noch mehr: „Noch ein verderblicher Feind nagt an dieser heranwachsenden Jugend. Der Raum ist der Erregerunberechenbarer Krankheitskeime. Diese Menschen stehen in der Gefahr, mit Rheuma, Tbc, Gicht, Ischias usw. behaftet zu werden.“ Er sieht voraus, dass der Jugend, „ein sich zwangsläufig ergebender Schaden im Existenzkampf“ aufgebürdet wird. Unter den elenden Voraussetzungen würden bei der Jugend „durch unser sträfliches Verhalten Minderwertigkeitskomplexe herangezüchtet“. Arthur Golkowski schimpft im Namen „der von ihren Stadtvätern im Stich gelassenen Elternschaft“ und fordert nachdrücklich, „dieses unter aller menschlichen Würde bestehende Übel auf dem schnellsten Wege zu beseitigen.“ Nach einer Ortsbegehung fasst die Stadt endlich einen Plan. Die Bunkerschule soll zur neuen achtklassigen Volksschule ausgebaut werden.
Im November 1952 hat die Schule zwei Klassenräume. Sie wird von derOverbergschule getrennt und ist nun selbständig mit einem eigenen Schulbezirk. Im Mai 1953 werden 215
Kinder unterrichtet. Als die ersten Eisenbahner – Häuser an der Schmittingheide bezogen werden, steigt die Zahl auf 258.
1954 wird der Name Bunkerschule gestrichen – per Antrag vom 8. Februar lebt die Margaretenschule. Die im Bunker untergebrachte Kapelle hieß Margaretenkapelle. Ostern 1955 hielt die „Evangelische Schule am Grillparzer-Weg“ Einzug ins Gebäude. Auf getrennten Wegen absolvierten katholische und evangelische Kinder nun ihren Schulweg. „Das fanden wir schrecklich“, blickt Gisela Imhorst zurück, „nachmittags haben wir doch alle zusammen gespielt.“ Es gab gekürzten Schichtunterricht von zehn Lehrkräften für elf Klassen, die in vier Räumen untergebracht waren.
Am 17. November 1955 fand die feierliche Schlüsselübergabe – OB Dr. Peus an der Spitze und Rektor Karl Hoffmann vollzogen die Zeremonie – der fast fertigen Margaretenschule statt. Sie verfügte über acht Klassenräume im ersten Stock, wo auch die Aula, das Büro und das Lehrerzimmer zu finden waren. Die Hausmeisterwohnung und die Werkräume lagen im Erdgeschoß.
Rund sechs Jahre lang – damals münsterscher Rekord für einen Schulneubau – war nach den Plänen von Stadtbaurat Wittken gebaut worden, 51.700 DM kostete der Bunkeraufbau. Die Sprengarbeiten alleine verschlangen 45.000 DM. Am großen Feiertag fehlte noch der Außenputz, auch wurden die Fenster im Treppenhaus später eingesetzt. Ein Chronist hält fest: „Das Haus hat nunmehr das Aussehen einer etwas wehrhaften Unterrichtsstätte.“ Stadtschulrat Dr. Poliert vergaß nicht, Eltern und Kindern zu danken für ihre Geduld, jahrelang mit einem Haus vorlieb genommen zu haben, das die Bezeichnung Schule nicht verdiente.
1957 verlässt Gisela Imhorst die Margaretenschule. Das Mädchen hat in den acht Schuljahren die große Not und den wichtigen Wandel miterlebt. Die Schulzeit prägte sie wie alle anderen nachhaltig. „Heute muss man sich darüber wundern, dass aus uns noch etwas geworden ist!“ Gisela kann eine weiterführende Schule nicht besuchen, denn das kostet Schulgeld. Die Familien, die zumeist mehrere Kinder hatten, können das vielfach nicht aufbringen. Ihr Berufsziel Fotografin kann sie mit ihrem Abschluss nicht ansteuern. Gisela nimmt eine Lehre bei Hettlage auf. Heute lebt Gisela Drees mit ihrem Mann Robert im elterlichen Haus, Peter-Rosegger-Weg Nummer 38.